Krieg in Europa. Ist das christliche Friedenszeugnis überholt?

Helge Klassohn, Vorsitzender des Deutsch-Baltischen Kirchlichen Dienstes e.V. (Hilfskomitee)

Seit über einem Jahr führt der russische Staat einen großangelegten Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. In meinem deutsch-baltischen Elternhaus bin ich mit Geschichten über die Erfahrungen der baltischen Länder mit dem großen unruhigen Nachbarn im Osten aufgewachsen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der Weltrat der Kirchen erklärt: „Kriege dürfen nach Gottes Willen nicht sein !“. Unter dem Eindruck des Wettrüstens und der Gefahr eines Atomkrieges gehörte ich in der DDR zu den frühen Wehrdienstverweigerern und förderte als ev. Pfarrer dann mit vielen anderen in Jugend- und Gemeindearbeit trotz aller staatlichen Einschränkungen die jährlichen Friedensdekaden und die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“. Unser über 30 jähriges Hören auf die Friedensbotschaft Jesu Christi und unser Bemühen um ein zeitgemäßes christliches Friedenszeugnis fand seine Bestätigung in der Gewaltlosigkeit der politischen Wende in der DDR. Nach der Selbstbefreiung und dem Neuanfang der baltischen Völker und auch der Menschen der DDR in den Jahren nach 1989 hatten wir uns in Mitteleuropa an Frieden und Freiheit als Selbstverständlichkeiten gewöhnt. Wir hörten kaum auf die Befürchtungen der Ost- und Nordeuropäer vor den imperialistischen Ambitionen des allzu großen Nachbarn im Osten. Nun haben wir wieder Krieg in Europa und Nachrichten von kriegerischen Aktionen, Kriegsnotwendigkeiten und Kriegsfolgen bestimmen die Politik. Viele quält die Frage: “Ist damit das christliche Friedenszeugnis überholt?“ Nein, denn die Barmer Theologische Erklärung von 1934 (Art.5) hatte für die evangelische Kirche gesagt, daß auch Staaten die Aufgabe haben, „…nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“. So sehr ich nun das Recht von Einzelpersonen, Völkern und Staaten zur Notwehr und zur Nothilfe bejahe, so sehr läßt mich auch das Wort Jesu Christi nicht los: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie sollen Gottes Kinder heissen“ (Matthäus 5, 9) Dieses Wort ist ein Zitat aus den „Seligpreisungen“ am Anfang der Bergpredigt Jesu Christi, nach der Überlieferung des Matthäus im Neuen Testament der Bibel. Die zentrale Botschaft Jesu lautete: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Kehrt um (= „Tut Buße“!) und glaubt an das (dies) Evangelium!“ (Markus 1, 15 parr. Matth. 4,17; Lukas 4,14). „Reich Gottes“ („Himmelreich“ bei Matthäus) bezeichnet in der Botschaft Jesu das auch in unserer Zeit wirksame, heilende und erlösende, lebenserhaltende und befriedende Wirken Gottes. Gott bleibt den Menschen und seiner ganzen Schöpfung in den Worten und Taten Jesu und in der Kraft seines lebenschaffenden Geistes zugewandt. Diese uns im Glauben geschenkte Einsicht verändert die Maßstäbe, schenkt neue Perspektiven und neuen Lebensmut, bringt Freude. Die 8 Seligpreisungen nennen darum diejenigen Menschen „selig“ oder „glücklich“, die in ihrem persönlichen Verhalten und aus einer entsprechenden Einstellung sich schon jetzt als Angehörige des „Reiches Gottes“ erweisen. Wie  dieses Verhalten konkret aussieht, beschreibt Jesus in den auf die Seligprei-sungen folgenden Abschnitten der Bergpredigt, z.B. in der radikalen Forderung nach Verzicht auf Vergeltung im Streit (Matth. 5,38-42), im Abschnitt Matth. 5,43-48 über die radikale Nächstenliebe auch zum Feind. Es geht um die Bekämpfung von Hass und todbringender Aggressivität schon im Menschen selber (Matth. 5, 21-26).  Unfrieden, Haß, Feindschaft und lebenszerstörende Gewalt haben keinen Platz im Reiche Gottes. „Frieden auf Erden“ bleibt tatsächlich möglich und auch geboten, wenn Menschen aus Glauben und Vertrauen „Gott in der Höhe“ tatsächlich „ehren“, wie es im Weihnachtsevangelium in Lukas 2,14 heißt.

Jeder und jede von uns ist weiter beauftragt, im Sinne Jesu Christi nach Frieden als Ziel menschlichen Handelns zu streben. […]

Neuabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem Deutsch-Baltischen Kirchlichen Brief vom November 2022

Deutsch-Baltischer Kirchlicher Dienst e.V. (Hilfskomitee)

Internetseite: https://deutsch-baltischer-kirchlicher-dienst.de