Dr. Matthias Paul, Pfarrer der Innenstadtgemeinde Görlitz und stellvertretender Vorsitzender der Gemeinschaft evangelischer Schlesier (Hilfskomitee) e.V.
Auf eine 40jährige Geschichte dürfen die Organisatoren des evangelischen Kirchentages in Nürnberg in diesen Tagen zurückblicken. Natürlich darf ein solcher Blick auf Vergangenes inmitten der Vielfalt der Tage nur eine kleine Notiz sein. Zu groß sind die Herausforderungen, mit denen sich die evangelische Christenheit der Gegenwart konfrontiert sieht. Aber das Stichwort „Zeitansage“ wurde durchaus bewusst gewählt.
Die Zeit anzusagen war lange Zeit die Aufgabe von Nachtwächtern. Die Zeit anzukünden war über Jahrhunderte die Aufgabe von Saigeruhren und -glocken an Kirchen und Rathäusern. Die rechte Zeit anzuzeigen war die Aufgabe von Sonnenuhren.
Eine von ihnen befindet sich am Südeingang der Görlitzer Peterskirche. Der Universalgelehrte und Bürgermeister der Stadt Bartholomäus Scultetus (gest. 1614) hatte sie entworfen und im Jahre 1567 wurde sie angebracht. Neben der Uhrzeit wies die Uhr auf die Quatemberzeiten, die Jahres- und Bußzeiten. Aber das Ungewöhnlichste aus heutiger Sicht sind wohl die lateinischen Inschriften, die die Uhr mit einer nochmals anders gearteten Zeitansage imprägnierten. Denn sie enthalten Aussagen zur Tiefe der Zeit, zu ihrer religiösen Dimension.
Bei ihrer Anbringung konnten die Inschriften längst nicht alle verstehen. Nur die Gelehrten und die höheren Schüler des Gymnasium Augustum entschlüsselten die lateinischen Verse im Vorbeigehen. Bedurften die ‚Ungelehrten‘ keiner Zeitansage? Oder sind es vor allem die ‚Gelehrten‘, denen eine solche Zeitansage nottut?
Antike Vorlagen aufnehmend und in biblischer Tradition stehend riefen die Verse zum rechten Gebrauch der Zeit auf. Man könnte es verkürzen auf die Worte: Tue Buße! Mensch, gedenke, dass du endlich bist! Du hast nur in deiner Vorstellung unendlich viele Möglichkeiten in deinem Leben. Beginne damit, dich selbst zu erkennen! Frage nach deiner Bestimmung! Haushalte mit deiner Zeit! Spare das Wichtigste in deinem Leben nicht zu lange auf! Folge Gott nach, wie einst die (ungelehrten) Fischer und Zöllner Jesus nachfolgten!
Scultetus, der auch über viele Jahre Kirchenvater der Gemeinde war, sparte nicht mit Zumutungen. Er führte den Gregorianischen Kalender in der Stadt Görlitz und in der Oberlausitz ein – heute ein west- und mitteleuropäisches Gemeingut. Es bedeutete: Plötzlich waren ganze Tage aus der Geschichte getilgt. Wir Heutigen streiten in Europa um eine Stunde und kommen zu keinem Ergebnis … Und ‚Laien‘ wundern sich (heute) über verschiedene kirchliche Zeitsetzungen.
Fragt man nach Motiven, dann war es wohl eine Hoffnung und die Verpflichtung, der göttlichen Vorsehung zu entsprechen – Scultetus als gelehrter Forscher, als gewählter Kommunalpolitiker und als berufener Christ. Schöpfungsordnung und Gottes Walten in der Geschichte recht zu erfassen und zu befolgen, anderen ebendies plausibel zu erklären, waren ihm Christenpflicht. Sonnenklar stellte ihm dies die beobachtete Saturn-Jupiter-Konstellation vor Augen. Eine weitere Inschrift auf der Sonnenuhr bezog sich darauf: Die Geburt Jesu, der Stern von Bethlehem und, die Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag. Genau dies musst du möglichst präzis berechnen, damit bloß nichts versäumt oder unterlassen wird! Denn der Herr im Himmel fordert Rechenschaft. Gewiss, wir wissen heute besser Bescheid über astronomische Ereignisse, aber die tiefgründige Ansage verliert dadurch nichts an ihrem Wert. Der gestirnte Himmel über uns hat nichts an seiner religiösen Dimension verloren. Heutige Astrophysiker fragen mehr als noch vor Jahrzehnten in Bereiche, die die alten Sphären der traditionellen Kosmologie anrühren. Und deren ‚Inschriften‘ vermögen – wie einst – nur wenige zu verstehen. Und so war die Sonnenuhr – eine Zeitansage mit Kontur. Beinahe leichter hat es da die religiöse Tiefendimension. Zeitansage heißt hier – ganz mutig formuliert – die Enge zu verlassen, die vertrauten Wege zu hinterfragen und sich neu aus- und aufzurichten am Geist Christi. Und – Gott sei es befohlen – der Kirchentag 2023 in Nürnberg möge eine solche für uns heute bereit halten.