Pf. Halina Radacz, Ev.-Augsburgische Gemeinde in Żyrardów und Rawa Mazowiecka (Diözese Warschau) und Leiterin Ökumenische Redaktion des Polnischen Fernsehens (TVP) bis 10/2022
Jeder Soziologe wird Ihnen sagen, dass Ressentiments, Hass und Feindseligkeit in den meisten Fällen aus einem Mangel an Wissen resultieren. Das weiß ich nicht, das verstehe ich nicht, das mag ich nicht, dem vertraue ich nicht, das akzeptiere ich nicht. Eine andere Sprache, ein anderes Aussehen, eine andere Tradition, eine andere Art, um die eigenen Gefühle und Überzeugungen auszudrücken. Und so wird der Fremde zum Feind.
Gewiss, wenn wir uns die jahrhundertelange Geschichte unserer Nachbarvölker anschauen (Deutsche-Polen, Polen-Ukrainer) und uns fragen, warum es so viel Abneigung gibt, reicht es natürlich nicht aus, zu sagen, dass wir uns nicht kennen. Wir haben positive Kapitel der Zusammenarbeit und der guten Nachbarschaft in unserer Geschichte. August der Starke aus Sachsen war König von Polen, und so wie die Polen heute Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufnehmen, so wurden nach dem Novemberaufstand 1830 [Von der russischen Teilungsmacht niedergeschlagen, Anm. d. Red.] Flüchtlinge aus Polen von den Dresdnern aufgenommen. Aber heute erinnert sich niemand mehr daran, es gibt kein Kapitel in den Schulbüchern mit dem Titel „Die polnisch-deutsche Freundschaft“. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs prägen das Gedächtnis der Nation und das Gedächtnis der Einzelnen. In fast jeder polnischen, deutschen, ukrainischen oder litauischen Familie gibt es eine lebendige Erinnerung an jemanden, der nicht zurückgekehrt ist. Die heutige junge Generation scheint sich nicht für Geschichte zu interessieren, sie will eine offene Welt und blickt in die Zukunft, doch die Nationalisten greifen mit großer Leichtigkeit auf die Ereignisse von vor 80 Jahren zurück und fahren damit fort, erfolgreich Spaltungen zu schaffen, Hass zu schüren und Stereotypen aufrechtzuerhalten.
Mir scheint, dass eine der Ursachen für diese Diagnose „meine eigene Wahrheit“ ist. Wir erinnern uns unterschiedlich an dieselben Ereignisse und verstehen sie unterschiedlich.
Etwas anderes ist die Erinnerung an traumatische Erlebnisse, die tödlich sein können, und zwar langsam, jeden Tag. Ich habe vor Jahren mit einer Teilnehmerin des Warschauer Aufstands und ehemaligen KZ-Häftling gesprochen. Sie erzählte, dass sie krank vor Hass war. Sie ging nicht ohne Brot in der Tasche aus dem Haus. Wenn sie auf der Straße Deutsch hörte, erstarrte sie, und wenn sie deutsche Touristen sah, fragte sie sich, welche Funktion sie wohl im Lager gehabt hatten? Sie war versklavt von der Erinnerung an das, was sie erlebt hatte. Das änderte sich erst, als sie begann, davon zu erzählen. Zunächst mit Menschen, die Ähnliches erlebt hatten, dann dank des Vereins „Zeichen der Hoffnung“, mit Christen aus Deutschland, die bereit waren zu sagen: „Es tut mir leid“. Das Verzeihen war die Heilung. Erst als sie verzeihen konnte, ist aus ihrer destruktiven Erinnerung eine konstruktive geworden. Sie wurde ihr eine Kraftquelle zum Tun und zum Glauben. Sie erlangte einen inneren Frieden. Zum Ende unseres Gesprächs erzählte sie mir stolz, dass sie Deutsch lernt, denn das braucht sie, um die Kontakte mit ihren deutschen Freunden zu pflegen und überhaupt möchte sie gerne Goethe im Original lesen.
So ist der Schlüssel einerseits die Anerkenntnis der Schuld und andererseits das Verzeihen, wobei das Verzeihen die Person „heilt“, die verzeiht, die damit nicht vergisst, wohl aber der Erinnerung ein neues Format gibt.
Ich erinnere mich nicht, um einen Anlass zur Rache zu suchen, sondern um zu verstehen.
Ich erinnere mich, um Zeugnis abzulegen und andere zu schützen.
Ich erinnere mich, damit mein Leiden in Dankbarkeit umgewandelt werden kann.
Und schließlich erinnere ich mich, damit ich vergeben kann.
Im zweiten Korintherbrief schreibt der Apostel Paulus: Das alles aber ist von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat in Jesus Christus und uns den Dienst der Versöhnung anvertraut hat. (2. Kor. 5. 18)
Wenn wir über die Versöhnung mit Gott in Jesus Christus nachdenken, sehen wir genau diesen Weg: Anerkenntnis unserer Sünden, Vergebung, Versöhnung. Und Paulus stellt uns eine Aufgabe, uns, die wir Jünger Jesu sein wollen, uns, die wir uns als Christen betrachten, uns, für die das Evangelium die Wahrheit ist. Wenn wir mit den Worten des Paulus die Worte des Vaterunsers verbinden: und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, dann stellen wir fest, dass das Suchen nach Vergebung und das Gewähren von Vergebung eine der wichtigsten Aufgaben eines Christen in der Welt ist.