Hilfskomitees im Portrait

In dieser Ausgabe des OKI-Newsletters stellt Pfarrer Waldemar Lies Ursprünge, Entwicklung und heutiges Wirkungsfeld der Gemeinschaft der evangelisch-lutherischen Deutschen aus Russland e.V. vor.

Die Kirchliche Gemeinschaft der evangelisch-lutherischen Deutschen aus Russland e.V. (oder auch nur „Kirchliche Gemeinschaft“) versteht sich als Missions- und Glaubenswerk. Das Ziel des Werkes ist es, Menschen zum rettenden Glauben an Jesus Christus einzuladen und in der Nachfolge zu begleiten. Die Geschichte der Kirchlichen Gemeinschaft ist bewegend, weil es auch ein Teil der Geschichte des lebendigen Gottes mit seiner Kirche ist.

Die frühe Entstehung
Als nach dem 2. Weltkrieg die vielen Flüchtlingsströme aus dem Osten in Westdeutschland ankamen, waren darunter auch um die 50.000 Russlanddeutsche. Unter den sich damals formierenden Landsmannschaften suchten auch die Russlanddeutschen nach einer Rechtsgrundlage, die ihnen die gesellschaftliche Einbindung in Deutschland ermöglichte. So entstand zunächst in Stuttgart das sogenannte „Hilfskomitee der evangelischen Ostumsiedler e.V. “, unter dem Vorsitz von Pfarrer Friedrich Rink. Als sich daraus die „Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.“ entwickelte, verselbstständigte sich das „Hilfskomitee der ev. Ostumsiedler“, um als evangelische Glaubensgemeinschaft wahrgenommen zu werden.
Eine weitere Umstrukturierung Mitte der 70er Jahre ergab sich, als auf Initiative der Vorsitzenden Pastorin Irmgard Stoldt eine Umbenennung und Neubestimmung des Vereins erarbeitet wurde. Die neue Satzung sollte der Bedeutung der Russlanddeutschen im gesamtkirchlichen Kontext, auch über Deutschland hinaus, gerecht werden.

Die „Kirchliche Gemeinschaft der evangelisch-lutherischen Deutschen aus Russland e.V.“ wurde somit „die kirchliche Vertretung aller in der Zerstreuung lebenden Evangelischen aus den früheren deutschen Gemeinden in Russland.“ Sie hatte mit diesem Mandat eine weltweit kirchliche Akzeptanz, bis hin zum Lutherischen Weltbund in Genf. Damit konnte sie wirksam für die in der Sowjetunion Verbliebenen eintreten, wie auch den nach Deutschland Kommenden Rechtshilfe in ihrer Kirche leisten. Die dafür neu etablierte Geschäftsstelle in Kassel wurde später nach Bad Sooden-Allendorf verlegt, da sich dort ein Tagungsheim mit entsprechenden Räumen anbot. Von dort aus ist sie seit 1979 für die nach Deutschland kommenden Evangelischen als auch den in den Herkunftsgebieten Verbleibenden tätig. 

Weitere Entwicklung

Die Notwendigkeit nach kirchlicher Bildung für die „heimkehrenden“ Deutschen wurde innerhalb der Leitung der Kirchlichen Gemeinschaft schon früh erkannt und thematisiert. Die damals Vorsitzende Irmgard Stoldt wandte sich schon im Jahr 1974 mit der Bitte um Hilfe an die Landeskirchen. Der Bedarf nach Unterricht in Bibelkunde, Kirchenmusik, Katechismus, Kirchengeschichte und kirchlicher Kunst waren einige nennenswerte Bereiche, in denen Unterricht in verschiedenen Formen erwünscht war. 

„Sie haben nicht das vorgefunden, was sie sich erhofft hatten, unter anderem auch eine andere Kirche, die ihnen sehr weltlich anmuten dürfte. Für beide Seiten muss ein Lernprozess in Gang kommen“, hoffte Helmut Müller vom Diakonischem Werk nach dem 3. Heimatkirchentag in Sindelfingen im September 1981. Solche Veranstaltungen sollten ein Anstoß sein, damit vor Ort, in den einzelnen Kirchengemeinden, die Kontakte zwischen „Einheimischen“ und „Heimkehrern“ vertieft werden. Die Heimatkirchentage sollten Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrem evangelischen Glauben stärken und den Austausch fördern. Die erhoffte Vertiefung der Beziehungen und gegenseitige Bereicherung zwischen den Kirchengemeinden und den russlanddeutschen Teilnehmern blieb jedoch aus, sondern führte eher zu Frustrationen und Enttäuschungen auf beiden Seiten. Existenzielle Fragen und theologische Themen, mit denen sich die evangelisch-lutherischen Deutschen aus Russland beschäftigten, unterschieden sich deutlich von den Fragestellungen innerhalb der Landeskirchen. 

Andere Schwerpunkte

Seit Ende der 70er Jahre hat sich auch der Schwerpunkt der Arbeit verlagert und die Kirchliche Gemeinschaft wurde zur Anlaufstelle für die in Deutschland entstehenden sogenannten „Brüdergemeinden“. Bibeln, Gesangbücher und andere christliche Literatur wurde hinter den „eisernen Vorhang“ in die damalige UdSSR an verschiedene Gemeinden verschickt. 
Anfang der 90er Jahre war es ebenfalls die Kirchliche Gemeinschaft, die daran beteiligt war, dass in der ehemaligen Sowjetunion die einst enteigneten Gebetshäuser an die Gemeinden zurückgegeben wurden und als solche genutzt werden konnten.
Beim Heimatkirchentag in Offenburg 1991 sprach Pfarrer Martin Hirschmüller zum Thema „Mission heute“. Dabei betonte er, dass es doch ein Zeichen einer opferbereiten Mission wäre, wenn sprachkundige Aussiedler nach Russland gingen, um dort Menschen im Aufbruch das Evangelium zu bringen und damit den Weg zum Glauben ebnen zu helfen. In Kooperation mit anderen Werken wurde einige Zeit später ein Missionarsehepaar nach Russland und ein weiteres nach Kirgistan zur Gemeindegründung entsandt. 

Die Heimatkirchentage wurden durch Missions- und Evangelisationstage (MET) abgelöst. Die MET finden alle zwei Jahre statt und bilden weiterhin eine Plattform für Begegnungen. Allerdings liegt der primäre Fokus dieser Veranstaltung auf missionarischer Wortverkündigung und Berichten aus den Regionen, wo die Mitarbeiter der Kirchlichen Gemeinschaft tätig sind. Bei den MET in 2019 wurde Propst Andrej Dzhamgarov aus Russland und Pfarrer Oleg Schewtschenko aus der Ukraine als Redner eingeladen. Beide tauschten sich darüber aus, welche Projekte dem Frieden zwischen ihren beiden Ländern dienen könnten. Beide waren sich auch einig, dass die Kirchliche Gemeinschaft eine wichtige verbindende Funktion innerhalb der lutherischen Kirchen einnehme.

Das Werk heute

Die Kirchliche Gemeinschaft versucht bis heute, die verbindende Funktion zwischen verschiedenen Kirchen einzunehmen, da sie Missionare in Bolivien, in der Ukraine und in Russland unterstützt. In den Räumlichkeiten der Kirchlichen Gemeinschaft wurden und werden vor allem Frauen und Kinder untergebracht, die vor dem Horror des Krieges Zuflucht suchen.
Außer der Missionsarbeit investiert die Kirchliche Gemeinschaft in Personal in Deutschland. In 2023 wurden eine Referentin für Frauenarbeit und eine Kinderreferentin angestellt und in ihre Dienste eingeführt. Damit versucht die Organisation ihren gestellten Auftrag zu erfüllen und die Arbeit in den Gemeinden zu unterstützen. Dabei liegen der Kirchlichen Gemeinschaft die Kinder und Jugendlichen besonders am Herzen. 

Für Christinnen und Christen, die seelsorgerlich tätig sein möchten, wird eine Ausbildung zum „Begleitender Seelsorger“ in Kooperation mit zertifizierten Ausbildungsstätten angeboten. Eine hybride, berufsbegleitende theologische Ausbildung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Gemeinden wird aufgebaut und geht Anfang 2024 an Start. Im Magazin der Kirchlichen Gemeinschaft „Salz & Licht“ werden die aktuellen Themen aus den Gemeinden theologisch, seelsorgerlich und praktisch beleuchtet. Ein eigener Youtube-Kanal und die Präsenz auf Instagram dienen dazu, dass auch jüngere Menschen die Angebote der Kirchlichen Gemeinschaft wahrnehmen und daran teilnehmen. Viele junge russlanddeutsche Christinnen und Christen haben weder mit Russland noch mit den ehemaligen sowjetischen Republiken eine emotionale Bindung, noch sehen sie die Konnotation mit Russland als vorteilhaft. Darauf wurde bei der Mitgliederversammlung im Herbst 2021 über den neuen Vereinsnamen entschieden und eingetragen: „Kirchliche Gemeinschaft der evangelisch-lutherischen Brüdergemeinden e.V.“
Die Verbindungen der Kirchlichen Gemeinschaft zum Martin Luther Bund, zum Gustav-Adolf-Werk, der EKD und deren Gliedkirchen bestehen weiterhin. Die Kirchliche Gemeinschaft ist Mitglied der Konferenz für Aussiedlerseelsorge (KASS) in der EKD und des Konvents der ehemaligen evangelischen Ostkirchen.  
Die Arbeit der Kirchlichen Gemeinschaft wird ausschließlich durch die freiwilligen Spenden der Mitglieder, Gemeinden und Freunde getragen und finanziert. Zusätzlich zu der bestehenden Arbeit wurde letztes Jahr ein Jugend- und Freizeitzentrum in Biebergemünd erworben. Zuerst wurden dort ukrainische Frauen und Kinder untergebracht, doch seit Sommer 2023 wird der Großteil des Geländes für eigene Veranstaltungen und Programme genutzt. 

Damals wie heute möchte die Kirchliche Gemeinschaft ein Zuhause für alle evangelisch-lutherischen Christen sein, denen die persönliche Nachfolge Jesu wichtig ist und die geistliche Einheit im Sinne des Evangeliums leben wollen.