Thema: Schicksalsgemeinschaft Europa
„Schicksalsgemeinschaft Europa“ lautete das Thema des Sudentendeutschen Tages 2023 in Regensburg. Diesem Thema muss sich jeder Vertriebene der Erlebnisgemeinschaft stellen, wenn er über das Früher und Heute nachdenkt. Relativ schnell wird mir beim Nachforschen in der Heiligen Schrift bewusst, dass es das Wort „Schicksal“ dort nicht gibt. Beim Nachforschen in Lexika wurde dieser Verdacht bestätigt. Im Lexikon für Theologie und Kirche Bd.9 fand ich einen Artikel von Jürgen Werbick – Jahrgang 1946 – der viele Jahre in Münster als Fundamentaltheologe lehrte. Dort heißt es:
„Die theologische Überlegung zeigt gegenüber dem Begriff Schicksal eine gewisse Reserve, da er als ‚heidnischer Begriff‘ außergöttliche Schicksals-Mächte assoziiert…
Schlimme Lebensschicksale sind der ‚Ernstfall‘ seelsorglicher Begleitung, der es nicht einfach darum gehen kann, den Betroffenen eine bestimmte religiöse Sinndeutung anzubieten. Vielmehr ist die Fähigkeit zu stützen und zu stärken, authentisch auf das Widerfahrene zu antworten. Die Seelsorger und Seelsorgerinnen können gegebenenfalls auch gefordert sein, mit den Betroffenen nach der Unterscheidung zu suchen zwischen Zumutungen, die Widerstand und Kampf erfordern, u. der Widerfahrnis jener Herausforderung, die mit dem Einwilligen in den guten Willen Gottes beantwortet werden soll.“
Dieser Kommentar aus dem Lexikon bestätigt mein Denken und Fühlen, denn einerseits möchte ich zustimmen, dass wir in einer Schicksalsgemeinschaft Europa leben, in der wir miteinander in vieler Hinsicht verbunden sind und deshalb uns um das gemeinsame Haus z.B. in ökologischen und wirtschaftlichen Fragen sorgen. Anderseits ist das, was uns zusammenfügt, auch durch menschliche Initiative geleistet worden, d.h durch Friedensverhandlungen und Bündnisse, die verschiedene Völker freiwillig eingegangen sind, um dadurch zu einer neuen Kraft aufzuwachsen, die Gedanken entgegengesetzt werden kann, die friedensverachtend und menschenverachtend sind. Wir handeln damit nicht aufgrund von widergöttlichen Mächten, die uns zusammenführen, sondern aufgrund eines guten Geistes in uns, den wir Schöpfergeist und Heiligen Geist nennen und der in besonderer Weise am Pfingstfest in den Blick kommt. Ich denke, dass wir alle, die auch heute diesen Gedenktag mitfeiern, beim Thema „Schicksal“ auch an Fügung denken, die wir der Kraft des Heiligen Geistes verdanken und die sich für mich besonders in der Charta der Vertriebenen gezeigt hat, die am 5. August 1950 in Stuttgart-Bad Cannstatt von 30 Vertretern der deutschen Heimatvertriebenen beider Konfessionen und darüber hinaus unterzeichnet und am folgenden Tag vor dem Stuttgarter Schloss und im ganzen Bundesgebiet verkündet worden ist.
Dort heißt es:
„Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen bedeutet, ihn im Geiste zu töten.
Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen, zu verlangen, dass das Recht auf Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.“
Damals ging es um das gleiche Staatsbürgerrecht der Vertriebenen vor dem Gesetz, die gerechte Verteilung der Lasten des Krieges auf die ganze Bevölkerung, di Eingliederung der Berufsgruppen der Vertriebenen und ihre Beteiligung am Wiederaufbau Europas. In der Charta heißt es dazu: „Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert. Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wir.“
Ich denke, dass es angemessen ist, an Ihrem Gedenktag diese geistige und religiöse Leistung der Vertriebenen in Erinnerung zu rufen und zu würdigen, denn in diesem Jahr 2025 jährt sich die Proklamation der Charta zum 75. Mal. Wir spüren in diesen Formulierungen die Last der Vertreibung ganz deutlich, aber auch den Willen, aufgrund dieser bitteren Erfahrung dafür zu sorgen, dass diese Erfahrungen sich nicht wiederholen. Bedauerlicherweise müssen wir jedoch auch aufgrund der derzeitigen kriegerischen Situation in Europa feststellen, dass sich das Schicksal der Vertreibung wiederholt, aber auch hier ganz deutlich nicht irgendein anonymer Gott oder eine anonyme Macht am Werk sind, sondern eine konkrete Regierung, die Beschuldigungen ausspricht, die jeglicher Grundlage entbehren. Menschengemachtes Unrecht erleben wir und fühlen uns bisweilen hilflos. Politiker und der Vatikan, der Kardinal Zuppi, den Erzbischof von Bologna beauftragt hat, suchen mit anderen Diplomaten Wege und sorgen für die Rechte der Verteidigung eines Landes, wobei wir immer in Sorge sind, dass der Krieg ausufert und nicht mehr zu händeln ist. Christliche Initiativen wie auch die Initiative einer in Assisi ansässigen Ritterschaft versuchen, an die Mächtigen in Moskau und Kiew zu appellieren und rufen zu Gebeten um Frieden auf, weil sich auch die Mächtigen der Erde manchmal schon außer Stande sehen, mit ihren Mitteln der Wirtschaft und Diplomatie einen Frieden zu erzwingen.
Ich bin sicher, dass die Menschen, die vor 75 Jahren die Charta der Vertriebenen unterzeichneten, aus einem versöhnten Herzen gesprochen und entschieden haben, denn die liebe Heimat im Blick zu behalten und dennoch in die Zukunft zu schauen, die in neuer Umgebung liegt, die jedoch noch voller Zerstörung und Not war – das ist aus rein menschlicher Kraft fast nicht möglich. Welche Kräfte waren dazu notwendig? Ich denke, dass auch die Kraft der Versöhnung des Heiligen Geistes gewirkt hat. Hier kann ich nur staunen und danken.
Wenn auch Europa derzeit eine besondere Schicksalsgemeinschaft hat, in der über Waffen und Notwehr gesprochen werden muss und bisweilen auch schon vom Wiederaufbau eines Landes verhandelt wird, das aber derzeit noch unter Zerstörungen leidet, so macht mir diese Situation deutlich, dass mit diesem Wort „Schicksal“ große Hoffnungen verbunden werden. Die Brüder und Schwestern in Europa, die in Not sind, werden uns damit aber zu Freunden in der Schicksalsgemeinschaft. Gemeinsam suchen wir nach Wegen, um die Not zu lindern und Frieden zu schaffen. Die meisten von uns können es nur im Kleinen tun, wenn bei Kollekten um Hilfe gebeten wird. Als Glaubenden stehen wir vor Gott und bitten um den Frieden in Europa, das uns zur Heimat geworden ist und zu dem auch die verlorene Heimat im Osten Europas gehört. Die Berge und Täler dort sind geblieben und manche Traditionen, die von den Vertriebenen früher dort praktiziert wurden, sind heute hier lebendig. Als Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen ist es mir ein besonderes Anliegen, den katholischen und evangelischen Christen für die schöpferische Leistung in der alten Heimat und dem neuen Zuhause hier zu danken. Aus der inneren Kraft des Glaubens an einen guten Gott, der uns niemals verlässt, konnte Neues entstehen. Möge das gute Werk, das durch Gottes- und Nächstenliebe geprägt ist, unser ganzes Volk und die Völker Europas einen und zu friedlicher Verbindung führen. Amen.