Es ist mir eine große Ehre und Freude hier und heute mit Ihnen das 75-jährige Bestehen des Konvents der ehemaligen evangelischen Ostkirchen gemeinsam feiern zu dürfen.
Mein Name ist Heiko Schmelzle. Als Mitglied des Bundespräsidiums des Bundes der Vertriebenen (BdV) und als vor wenigen Tagen neugewählter BdV-Landesvorsitzender für Niedersachsen hat mich mein Präsident Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius gebeten, ihn bei diesem wichtigen Anlass zu vertreten. Er hat mich beauftragt, Ihnen seine besten Grüße auszurichten und Ihnen für Ihre wichtige Arbeit in der Vergangenheit herzlich zu danken. Gleichzeitig soll ich Ihnen für Ihr Wirken in der Zukunft Gottes Segen wünschen. Er verbindet diese Wünsche auch mit einem herzlichen Dank an die evangelische Kirche, die diese Arbeit für den Frieden unterstützt.
Ich bin sicherlich kein so begnadeter Redner – wie es der Präsident des Bundes der Vertriebenen ist – dennoch glaube ich, dass Bernd Fabritius mich nicht ganz zufällig als seine Vertretung für den heutigen Anlass ausgewählt hat, weil wir uns seit 2013, als wir beide in der 18. Wahlperiode Mitglieder des Deutschen Bundestages wurden, kennen. Schon damals arbeiteten wir in der Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten unserer Bundestagsfraktion zusammen. Uns war es immer wichtig, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung wachzuhalten, weil der fremdbestimmte Verlust der Heimat aus unserer Sicht eine Menschenrechtsverletzung ist.
Auch im Jahre 2013 – am 02.11.2013 – wurde in meiner Heimatstadt Norden in meinem damaligen Bundestagswahlkreis Aurich-Emden nach 8-jähriger Vorbereitungszeit die Gnadenkirche Tidofeld in ihrer neuen Funktion als Dokumentationsstätte zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Niedersachsen und Nordwestdeutschland eröffnet. Die Festpredigt hielt als geistiger Schirmherr der hannoversche Landesbischof Ralf Meister.
Die Gnadenkirche Tidofeld ist der Nachfolgebau einer historischen Barackenkirche, die tausenden Heimatvertriebenen in einem der größten Vertriebenenlager Deutschlands ab 1945 eine spirituelle Heimat bot und eine wesentliche Stütze bei der Integration darstellte. Heute befindet sich dort die Dokumentationsstätte. Die Förderung – insbesondere der evangelischen Landeskirche – ermöglicht, die Erinnerung wachzuhalten, die Migrationsgeschichte in Deutschland friedenspädagogisch zu bearbeiten und Menschenwürde einzuklagen. Es können so Akzente auch für die aktuellen Fragen zu Flucht und Vertreibung gesetzt werden. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich für das große Engagement der evangelischen Landeskirche danken, die die Gnadenkirche Tidofeld als einen von 8 Friedensorten in Niedersachsen anerkannt und signalisiert hat, dass die Dokumentationsstätte auch in den kommenden Jahren als Friedensort gesehen wird.
Die Präsentation der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld erfolgt mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews: Persönliche Erfahrungen der Jahre 1945–1960 werden über zahlreiche Bildschirme mit modernster Touchscreen-Technik lebendig. Zugehörige Exponate – private Dinge des Alltags, die häufig den langen Fluchtweg begleiteten und auch nach der Ankunft wichtig blieben – illustrieren das Erzählte. Ein Wandfries mit Daten, Fakten und Hintergründen hilft zur globalen Einordnung. Das Modell des Flüchtlingslagers Tidofeld – kombiniert mit historischen Fotografien – lässt die Dimensionen des Lagerlebens erahnen. Schließlich präsentiert eine Station „Ausblick“ aktuelle Filme zum Thema Flucht, Vertreibung, Integration und gibt Beispiele für die gesellschaftliche wie kirchliche Herausforderung angesichts globaler Migrationsbewegungen der Gegenwart.
Auf Einladung von mir hat eine Gruppe des Konvents der ehemaligen evangelischen Ostkirchen (Hilfskomitees) am 25.08.2022 eine Exkursion nach Norden unternommen. Geführt wurde diese von Klaus Röhrbein, den ich seit meiner Jugend durch Besuche von Schlesiertreffen kenne, zu denen ich meine Eltern begleitete. Die Gruppe des Konvents informierte sich ausgiebig über die Ankunfts- und Integrations-geschichte von Flüchtigen und Vertriebenen im Nordwesten Deutschlands.
Damals habe ich mich im Vorfeld des Besuchs das erste Mal intensiv mit der Arbeit des Konvents der ehemaligen evangelischen Ostkirchen beschäftigt. Zu Beginn waren die Mitglieder des Konvents – die Hilfskomitees – insbesondere für die seelsorgerische Begleitung und die diakonische Unterstützung der Flüchtlinge und Vertriebenen aus ihren jeweiligen Herkunftskirchen bemüht.
Aus Erzählungen meiner Großeltern, Eltern und anderen – von Flucht und Vertreibung betroffenen – Verwandten habe ich in frühester Kindheit erfahren, dass der Glaube in schwierigen Zeiten eine wichtige Stütze ist. Auch, wenn man die Heimat gegen den eigenen Willen durch Flucht und Vertreibung verlassen muss, bleibt Gott immer eine Heimat, denn er und der Glaube gehen mit. Auch in der neuen Heimat ist der Glaube für das Durchhalten in schweren Zeiten wichtig und die Glaubensgemeinschaft ein Ort, an dem man mit Gleichgesinnten und Leidensgenossen ins Gespräch kommt sowie Sorgen und Nöte teilen kann.
Wer weiß, ob ich ohne den Glauben meiner Familie das Licht der Welt erblickt hätte. Denn 1945 scheiterte die Flucht der Familie meines Vaters aus dem östlichen Sudetenland gen Westen, weil ihnen durch die von Thüringen vorrückende Rote Armee der Weg abgeschnitten wurde. In der größten Verzweiflung verhinderte eine Großtante, die Ehefrau eines Pastors war, einen möglichen Freitod mehrerer Familienmitglieder. Ich kann nur erahnen, wie wichtig die Arbeit der Hilfskomitees für die Menschen gewesen sein muss, die durch Flucht und Vertreibung traumatisiert waren und sich nach dem Verlust der Heimat (und häufig vieler Familienmitglieder) eine ganz neue Existenz aufbauen mussten. Häufig waren diese Menschen an den Orten, an denen sie „strandeten“, von der heimischen Bevölkerung noch nicht einmal willkommen.
In den letzten Jahrzehnten haben sich durch die Arbeit des Konvents der ehemaligen evangelischen Ostkirchen intensive und oft freundschaftliche Kontakte zu den heutigen Einwohnern der Herkunftsgebiete in Mittel- und Osteuropa entwickelt. Durch die zu Kirchengemeinden, Kommunen und öffentlichen Einrichtungen gepflegten Partnerschaften, kann in der heutigen Zeit auf unbürokratische Weise passgenaue Hilfe geleistet werden. Die Hilfskomitees haben detaillierte Kenntnisse über die Notwendigkeiten vor Ort, so dass passgenaue Hilfe segensreich wirken kann.
Ich danke Ihnen für die Einladung zu der heutigen Festveranstaltung. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Arbeit des Konvents der ehemaligen Ostkirchen und der evangelischen Kirche viele Schnittmengen mit der Arbeit des Bundes der Vertriebenen hat. In geopolitisch beängstigenden Zeiten und in Zeiten, in denen das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen Höchstzahlen von Menschen meldet, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, dürfen wir in unserer friedensstiftenden Arbeit nicht nachlassen. Stattdessen sollten wir uns unterhaken, um unsere gemeinsamen Werte hochzuhalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.