Franziska Davies, Katja Makhotina: Offene Wunden Osteuropas.

Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs, Darmstadt 2022, 263 S.

Besprechung von Annemarie Franke

Die beiden Autorinnen, Osteuropa-Historikerinnen an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Universität Bonn, haben in den vergangenen Jahren verschiedene Exkursionen für Studierende zu Gedenkstätten und Erinnerungsorten der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges im östlichen Europa durchgeführt. Die neun Kapitel folgen den Reiserouten dieser Exkursionen – angefangen mit Warschau geht es auf einer weiteren Reise nach Lemberg/Lwiw und in der Ukraine weiter östlich nach Babyn Jar bei Kyiv;  es folgen weitere Kapitel zu Belarus mit Minsk und Malyj Trostenez, außerdem Essays über Stalingrad und Leningrad aus der Perspektive der russischen Zivilbevölkerung, weiter geht es nach Litauen mit dem Thema Wilner Getto und Schauplätzen der Partisanenkämpfe, schließlich wieder nach Polen zu den NS-Konzentrationslagern Bełżec und Majdanek. Die Lektüre ist schmerzlich, aber lohnend. Die einzelnen Kapitel liefern neben der Aufklärung über die deutschen Verbrechen an den besuchten Erinnerungsorten, Berichte von Überlebenden und Zeitzeugnissen zugleich eine Reflexion für die Ursachen der Unkenntnis dieser Geschichte. Die Erinnerung an die Wunden des Zweiten Weltkriegs war in der ehemaligen Sowjetunion und den mitteleuropäischen Satellitenstaaten mindestens bis 1990/91 durch den Staat gesteuert und bezogen auf bestimmte Opfergruppen tabuisiert. Das Familiengedächtnis erzählte eine andere Geschichte als Schulbücher, Museen und offizielle Gedenkfeierlichkeiten. In der Einleitung stellen die Autorinnen fest: „Gemeinhin gilt Deutschland noch immer als leuchtendes Beispiel für die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit. Uns, als Osteuropa-Historikerinnen, fallen dagegen gerade die Leerstellen der Erinnerung auf. Immer wieder hören wir in unseren Seminaren von Studierenden, dass sie in der Schule zwar viel zu Deutschland zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gelernt hätten, aber wenig von den Erfahrungen der Millionen von Menschen in Osteuropa während des Krieges wüssten.“ (S. 15) Diese Selbstbeschreibung der Jugendlichen hat ihre Ursache neben der Schulbildung auch in der Überlieferung im Familiengedächtnis, das die Tätergeschichte(n) häufig ausgeblendet hat.

Das Buch war bereits vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geschrieben, aber unter dem Eindruck des 24. Februar 2022 haben die Herausgeberinnen ihr Vorwort entsprechend verändert und ein Nachwort ergänzt. Darin gehen sie sehr stark auf die Geschichtspolitik des russischen Präsidenten ein und entlarven seinen Versuch, propagandistisch den aktuellen Krieg historisch zu legitimieren. Insbesondere der Epilog (verfasst März 2022) ist sehr persönlich, da die Autorinnen darüber nachdenken, was diese Erinnerung einmal für ihre Kinder bedeuten wird, die jeweils in der Phase der Arbeit an diesem Buch Säuglinge sind. Die Frage stellt sich ihnen auch angesichts der Tatsache, dass die eigene Familiengeschichte eng verwoben ist mit den beschriebenen Verbrechen – sowohl aus der Perspektive der Opfer wie auch der Täter. Insgesamt ein sehr nachdenkliches Buch, das immer wieder deutlich macht, warum es für eine Zukunft in Frieden notwendig ist, die Vergangenheit gut zu verstehen und um ihren langen Schatten zu wissen.