Der Vortrag auf der Jahrestagung des Konvents am 27. April 2023 über Pastor Dr. Herbert Girgensohn (1887-1963) stellte sein Wirken als erster Vorsitzender des Ostkirchenausschusses in den Jahren 1947-1951 in den großen Kontext seiner Biographie. Der Referent, Kirchenpräsident i.R. Helge Klassohn konnte nicht umhin, die Prägungen dieses bedeutenden Theologen und Vertriebenen-Seelsorgers aus seiner deutschbaltischen Herkunft im heutigen Lettland her zu beleuchten. Wir geben eine Zusammenfassung und Auszüge des Vortrags wieder.
Theologen aus der Familie Girgensohn amtierten in dem seit Anfang des 18. Jahrhunderts unter russischer Herrschaft stehenden Livland über 200 Jahre lang als Gemeindepastoren, Pröpste und Generalsuperintendenten.
Herbert Girgensohn folgte dem Weg seiner Vorfahren. Aufgewachsen in der Zeit unter russischer Herrschaft vor der Oktoberrevolution, erlebte er den Ersten Weltkrieg und den Unabhängigkeitskampf der Letten, als im Ergebnis die vormals deutsche Oberschicht in die Rolle einer nationalen Minderheit gedrängt war. 1920 wurde er als „Stadtvikar“ für den Pfarrdienst in den Rigaer deutschen Gemeinden und im Jahre 1921 als Ober-Pastor an die deutsche Gemeinde der St.-Petri-Kirche zu Riga berufen.
„Seit 1927 wirkte er neben seinem Pfarramt als Dozent für Praktische Theologie an der deutschbaltischen, im Wesentlichen vom VDA [Verband für das Deutschtum im Ausland] finanzierten Privat-Hochschule „Herder-Institut“ in Riga, an deren theologischer Abteilung neben Deutsch-Balten auch junge Leute aus Litauen, Polen, Rumänien (Siebenbürgen), Ungarn, der Tschechoslowakei und Deutschland studierten. Er setzte sich in seinen Vorlesungen, Predigten und Vorträgen mit vieldiskutierten Gegenwartsfragen im Lichte von Schrift und Bekenntnis kritisch auseinander. (…) Wenige Wochen nach Veröffentlichung der Barmer Theologischen Erklärung 1934 äußerte Girgensohn in einem Vortrag: „Allem Götzendienst gegenüber, er mag aussehen, wie er wolle, muss unsere Verkündigung ein Nein haben…dort, wo ein anderes Evangelium dem Evangelium von Christus entgegensteht“ (Herbert Girgensohn/Julius Schniewind, Evangelische Verkündigung heute, in: Bekennende Kirche, Heft 25, 1935, S.11.16).“
Der Hitler-Stalin-Pakt mit seinem geheimen Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 legte fest, dass die baltischen Staaten in die Einflusssphäre der Sowjetunion und Stalins fallen, allerdings vorher die deutschstämmige Bevölkerung ausgesiedelt werden sollte.
„Die Umsiedlung war der tiefste Einschnitt in die deutsch-baltische, nationale Identität. Mit ihr hatte die deutschbaltische „Volksgemeinschaft“ (insges. 65.000 Pers.) ihr Land, „das Land“ und damit auch das Leben mit den Menschen der baltischen Völker und Nationen im Zuge einer „diktierten Option“ (Dietrich A. Loeber) aufgegeben („preisgegeben“?). Sie ordneten sich dem „Großdeutschen Reich“ ein. Damit folgten sie sicher einer instinktiven Furcht vor dem allzu großen Nachbarn im Osten und sicher auch dem Wunsch, endlich ihre nationale Minderheitenexistenz loszuwerden. Sie waren nun „Reichsdeutsche“ mit deutsch-baltischer Vergangenheit und Prägung.“
Herbert Girgensohn teilte das Schicksal seiner Landsleute und lebte nach der Umsiedlung 1939-45 im sogenannten „Reichsland Warthegau“:
„Girgensohn und eine größere Anzahl deutschbaltischer Pastoren fanden Aufnahme in der altpreußisch-unierten Kirche der ehemaligen, seit 1920 zu Polen gehörenden Provinz Westpreußen mit Posen als Zentrum. Diese Kirche war wie die polnische römisch-katholische Kirche der Feindschaft von NS-Gauleiter Arthur Greiser und seinen Helfern ausgesetzt, die das kirchliche Leben immer mehr einzugrenzen und aus der Öffentlichkeit zu verdrängen suchten. Von 1940-42 war Girgensohn Pfarrer an der Kreuzkirche und 1942-1945 Pfarrer an der Christuskirche zu Posen, zugleich Dozent an der dortigen Kirchlichen Hochschule für Praktische Theologie.“
Im Januar 1945 flüchtete er mit seiner Frau und sieben Töchtern (der Sohn diente als Soldat und fiel im Kaukasus) vor der vorrückenden Roten Armee und gelangte nach Stationen in Brandenburg schließlich nach Lübeck.
„Er wurde als Pastor an der bombenzerstörten St.-Marien-Kirche zu Lübeck in den Dienst der ev.-lutherischen Landeskirche mit dem Schwerpunkt der seelsorgerlichen und karitativen Betreuung der deutsch-baltischen Flüchtlinge in der Stadt und in deren weiterem Umkreis. Von der britischen Besatzungsmacht wurde dafür die Tätigkeit innerhalb eines „Baltic Relief Comittee“ (Hilfe für heimatlose Esten, Letten und Litauer) gestattet. Damit stand auch sein Dienst unter Deutschbalten unter alliiertem Schutz. Der bei den Deutschbalten weithin anerkannte und von vielen als Pastor hochgeschätzte Mann stürzte sich geradezu in die Arbeit unter den Flüchtlingen und setzte dafür sein ganzes Organisationstalent, seine Lebenserfahrung und seine geistliche Autorität ein. (…)
Zunächst fanden sich die Vertriebenen in den Westzonen unter dem Dach der Kirchen im Rahmen des Evangelischen Hilfswerks unter der Leitung von Eugen Gerstenmeier in Hilfs-Komitees zur Linderung der unmittelbaren Nöte zusammen, bis die Alliierten den Vertriebenen 1948 auch die Gründung von säkularen Selbsthilfe- und Vertretungsorganisationen erlaubten (Landsmannschaften, Bund der Vertriebenen usw.). Es arbeiteten nicht weniger als 18 ev. Hilfskomitees (u.a. für die Deutschbalten, die Bessarabiendeutschen, die Pommern, die Westpreußen usw.), deren gewählter Leitungskreis „Ostkirchenausschuß“ vom Rat der EKD am 10.10.1946 als Vertretung der ehemaligen deutschen Ostkirchen offiziell anerkannt wurde.“
Pastor Dr. Girgensohn wurde zum ersten Vorsitzenden dieses Ausschusses gewählt. Im gleichen Jahr noch wurde er zum Wintersemester 1946/47 als Dozent (seit 1955 Professor) für Praktische Theologie an die Kirchliche Hochschule Bethel berufen.
„Der Ostkirchenausschuß beauftragte ihn am 15.1.1947 mit der Abfassung eines „Memorandums zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen“, das seine als richtungweisend angesehenen Auffassungen und Erfahrungen zum Thema der theologisch-geistlichen und kirchlich-diakonischen Bewältigung von Flucht und Vertreibung der Evangelischen Gemeindeglieder aus den deutschen Ostprovinzen und den deutschen Siedlungsgebieten in Mittel- und Osteuropa zusammenfassend darstellen sollte.(…)
Schon bald nach Kriegsende hatte vor den Deutschen, Vertriebenen und Einheimischen die Frage gestanden, wie sie als Christen das grausige hinter ihnen liegende Geschehen, das mit dem Jahr 1933 begonnen und für viele erst mit dem Jahr 1948 geendet hatte, im Lichte des Wortes Gottes zu verstehen hätten. Das vom 1. Rat der EKD im Oktober 1945 in Stuttgart gegenüber einer Delegation des Ökumenischen Rates formulierte „Schuldbekenntnis“ such-te die Verantwortung nicht bei anderen sondern klagte sich selbst des schwachen Glaubens, der mangelnden Nächstenliebe und des fehlenden Mutes zum Widerstand gegen das NS-Gewaltregime an. Die 1947 in Darmstadt versammelten Mitglieder des Bruderrates der Bekennenden Kirche bekannte sich noch deutlicher zur eigenen Verantwortung für die Irrtümer und Irrwege der NS-Zeit und sah in den das deutsche Volk heimsuchenden Kriegsfol-gen die Offenbarung des Gerichtes Gottes über eigene Schuld und eigenes Versagen. In Konsequenz daraus suchten insbesondere von der BK-Theologie angerührten evangelischen Christen im Bekenntnis eigener Schuld, in der Bereitschaft zur Umkehr unter dem Kreuz Christis Wege zum Zusammenleben in Frieden (mit dem Ziel der Versöhnung ) mit den von den deutschen Verbrechen betroffenen Menschen und den Nachbarvölkern, besonders im Osten Deutschlands.
So ist auch für Girgensohn der theologische Ausgangspunkt für seine im „Memorandum“ dargelegten Überlegungen das „Gericht Gottes“, der im Blick auf deutsche Schuld an unsagbaren Verbrechen einen Schlussstrich unter die 1000 jährige Beteiligung Deutscher und ihrer Kirchen an der Geschichte Osteuropas und unter die (hybride) Auffassung von einer „deutschen Sendung im Osten“ gezogen habe. Das Ja zum Gericht Gottes bedeute Buße und Umkehr zu einem Handeln für die „aus dem Feuerofen Geretteten“. Folge des Gerichtes Gottes sei auch, dass die östlichen evangelischen Territorialkirchen nicht mehr existierten. (vgl. H.Wittram, Herbert Girgensohn-Seelsorger und Vordenker, in: Einblicke in die Baltische Kirchengeschichte, Dokumente aus Theologie und Kirche Bd. 9, hrsg. von Stephan Bitter, 2011, hier: S.413) Umsomehr müssten die Christen unter den Vertriebenen und Flüchtlingen einander mit dem Evangelium trösten und den Zusammenhalt unter-einander in tätiger Nächstenliebe stärken. Heimatlose und Einheimische sollten den Weg zueinander im Geist der Liebe suchen und finden, „die Bitterkeit und Neid, einen gewissen Flüchtlingshochmut, Geiz und Selbstsucht überwindet“, dazu „Vergeben und aus der Ver-gebung Gemeinschaft erstehen lassen“ (zit. nach H.Wittram, a.a.O., S. 414).“
1949 lösten sich die Hilfskomitees aus dem „Hilfswerk“ der EKD und wurden nun in ihren seelsorgerlichen und diakonischen Aufgaben von je einer „Patenlandeskirche“ finanziell unterstützt. Der Ostkirchenausschuß schloss sich 1950 mit den Hilfskomitees zum „Konvent der zerstreuten evangelischen Ostkirchen“ (Ostkirchenkonvent) zusammen, seit 2003 trägt er den Namen „Konvent der ehemaligen evangelischen Ostkirchen“. Aus gesundheitlichen Gründen legte Herbert Girgensohn am 4. Juni 1951 den Vorsitz im Ostkirchenausschuß nieder, blieb aber seiner Arbeit als Vorsitzender des „Deutsch-Baltischen kirchlichen Hilfskomitees“ weiter verbunden. Er verstarb 1963.
„Man geht wohl nicht fehl, wenn man Herbert Girgensohn in den Jahren seines Wirkens von 1945-1963 als einen der evangelischen Wegbereiter für die Ostdenkschrift und für die Aussöhnung zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn im sich vereinigenden Europa ansieht.“
(Mit freundlicher Genehmigung des Autors Helge Klassohn nach dem Manuskript „Herbert Girgensohn, 1. Vorsitzender des Ostkirchenausschusses“. Vortrag am 27.4.23 im Ostkirchenkonvent)