Kleiner Rückblick auf die Jugendarbeit der Gemeinschaft evangelischer Schlesier
1963 erschien das Septemberheft des Schlesischen Gottesfreund passend zum Schuljahresbeginn als Sonderausgabe Jugend und der Osten. Unter der Überschrift „Evangelische Jugend vor den Ostproblemen schreibt“ H.-H.N. über die ‚Arbeitsgemeinschaft evang. Heimatvertriebener Jugend in der evang. Gemeindejugend‘, die die Jugendarbeit der Gemeinschaft evangelischer Schlesier und der anderen Hilfskomitees zusammenfasste. Die Analyse des Autors: Man gestehe in der westdeutschen Gesellschaft der alten, aus dem Osten stammenden Generation zu, noch ein wenig die Erinnerungen zu pflegen. Im Übrigen halte man die Ostbeziehungen nur noch für historisch interessant. N. vertritt gegen die vorherrschende Meinung die These, dass die Eingliederung der heimatvertriebenen Jugend noch nicht abgeschlossen sei. Im vollen Sinn bedeute Eingliederung für ihn: „Mit der eigenen Herkunft ins Reine kommen, sie bewusst und positiv ergreifen, damit zu einem besseren Verständnis seiner selbst kommen, die mit dem Flüchtlingsschicksal oft verbundene Unsicherheit überwinden“. Was für den Einzelnen gelte, sei für ihn auch wichtig im Blick auf die Verarbeitung (sic!) der geschichtlichen Vergangenheit der Beziehungen zu den Völkern des Ostens. Wenn man sie nicht bewusst verarbeitet, bleibe sie unbewältigt. Deshalb gelte es auch, Tradition nicht abzulehnen: „Tradition kann und soll uns bereichern.“ Sein nächstes Stichwort hieß ‚Grundsatzfragen‘. Es ging ihm „um die Probleme des Kommunismus und Nationalismus, um die Kirche im atheistischen Staat, um Fragen des Völkerrechts, um Politik und Ethik“. Gerade die evangelische Jugend könne solchen Fragen weder ausweichen, noch sich von anderswoher Antworten holen. Und schließlich ‚Völkerverständigung‘: Weil es keine „ins Blaue hineinkonstruierte“ Versöhnung geben könne, müsse die Vermittlung exakter Kenntnisse ihren unbestrittenen Platz in der evangelischen Jugendarbeit haben.“ Aus dieser Aufgabenbeschreibung ergebe sich, dass die von ihm vorgestellte Arbeitsgemeinschaft „keine Ostsekte“ innerhalb der Evangelischen Jugend sei, „die die Mitarbeit einheimischer Jugend ausschlösse“. Auch wies er den Verdacht zurück, die Beschäftigung mit dem Osten „liefere vielleicht gar die Ideologie für nationalistische und revanchistische Ziele“.
Dieser Grundsatzartikel zeigt brennglasartig, dass Spannungsfeld schlesischer Jugendarbeit in der kirchlichen und gesellschaftlichen Situation in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre.
Joachim Engelmann, Mitglied im Ausschuss für Jugendarbeit der Gemeinschaft schrieb 1959: „Es geht uns um die Vertretung einer bewusst christlichen Haltung in der Ostjugend …und um das Vorleben einer europäischen Gemeinschaft mit den osteuropäischen Völkern. So ist uns das evangelische Bekenntnis der Anlass, uns um ein Christenleben zu mühen, das schlesische Erbe ein Anlass, unser Ostbewusstsein zu pflegen und die deutsche Aufgabe Anlass zu europäischem Denken.“
Als Ziel der schlesischen Jugendarbeit nennt er „die Erhaltung der Heimatfähigkeit und eines aktiven Verantwortungsbewusstseins für die Zukunft des Ostraumes, eines christlichen und ostbewussten Pioniergeistes.“ Für ihn war deshalb klar: „Es geht um Haltung, nicht um Unterhaltung.“
Es ist allerdings nicht überliefert, was der Oldenburger Lehrer zu den Tanzveranstaltungen der Münsteraner Jugendgruppe gesagt hat. Diese Gruppe hatte 1955 die Pfarrfrau Lydia Neß gegründet und seitdem geleitet. „Wir waren ja schon fünf Pfarrerskinder“, erinnerte sich einer ihrer Söhne an die Anfänge der Gruppe, zu der sich monatlich etwa 25 Jugendliche zu Information und Diskussion trafen, regelmäßig gemeinsam auf Fahrt gingen – oder eben die Geselligkeit pflegten. Wer sich heute das sorgfältig dokumentierte Programm anschaut, kann über die Breite der Themen und den Tiefgang der Diskussionen nur staunen und ahnt, dass hier mit dem Blick auch besonders nach Osten das europäische Einigungswerk der Jahre 1989/90 an der Basis schon vorbereitet wurde.
Aber auch in München und Oldenburg gab es eine engagierte Jugendarbeit. So berichtet der Schlesische Gottesfreund von fruchtbaren Kontakten der Gruppe Oldenburger evangelischer Jugendlicher aus Schlesien mit niederländisch-reformierten Jugendlichen oder von Jugendrüstzeiten der Gemeinschaft in München, wo sich 1958 80 Jugendliche mit dem Thema „Der dialektische Materialismus“ (Diamat) auseinandersetzten und dabei u.a. Berichte über die Situation in der DDR samt Filmvorführung „1.3. Tag der Nationalen Volksarmee“ erlebten. In seiner Predigt im Schlussgottesdienst mit der Ortsgemeinde zeigte Kirchenrat Ulrich Bunzel „auf Grund des Sonntagsevangeliums Joh. 13,31-35 …, wie nicht die vom Bolschewismus gelehrte Herrlichkeit des sich angeblich ständig aufwärts entwickelnden Menschen mit dem Ziel des Paradieses auf Erden Verheißung habe, sondern allein die Herrlichkeit Gottes, die freilich vom Diamat geleugnet und fanatisch bekämpft werde.“
Martin Herche
(zuerst erschienen in der FS 70 Jahre Gemeinschaft ev. Schlesier, 2021)