Interview mit Wanda Falk (WF), Generaldirektorin der Diakonie in Polen
OKI: Wie engagieren sich Kirche und Diakonie in Polen aktuell für die Ukrainer, die nach Polen geflüchtet sind? Welche Unterstützung geben Sie den Menschen in der Ukraine?
WF: Zunächst muss man sagen, dass wir nicht nur Hilfe für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine leisten, sondern ebenso auf die Not der Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenzregion reagiert haben. Seit der Ausweitung der militärischen Aggression des russischen Regimes gegen die Ukraine (24. Februar 2022 bis 5. Marz 2023) sind bereits 10,2 Millionen Kriegsflüchtlinge in Polen eingetroffen. Das sind vor allem Frauen und Kinder, da die ukrainischen Behörden Männer zwischen 18 und 60 Jahre alt nicht ins Ausland lassen.
Die Regierung, Kommunalverwaltungenund Nichtregierungsorganisationen, einschließlich Diakonie Polen, stehen vor der Notwendigkeit, Nothilfe zu organisieren und langfristige Hilfe zu planen. Am 12. März 2022 trat das Gesetz über die Unterstützung ukrainischer Bürger im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt auf dem Gebiet dieses Staates in Kraft (das Gesetz wurde kürzlich bis zum 23. August 2023 verlängert). Es ermöglicht unter anderem die Unterstützung des polnischen Staates für Einrichtungen und Leute, die Flüchtlinge Wohnraum zur Verfügung stellen, die Vereinfachung der Legalisierung des Aufenthalts von Flüchtlingen in Polen, den Zugang zum Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen.
Bisher hat die Diakonie Polen Sachspendentransporte sowohl in die Ukraine als auch zu Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Polen organisiert, den Transport von Flüchtlingen von Polen nach Deutschland koordiniert und evangelische Kirchengemeinden unterstützt, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Geplant ist auch eine langfristige Unterstützung für die Flüchtlinge (Finanzierung, psychologische Betreuung, Erlernen der polnischen Sprache, Rechtshilfe, Integrations- und Bildungsworkshops) sowie die Unterstützung für die Menschen in der Ukraine. Die Diakonie Polen arbeitet mit ausländischen Partnern zusammen, unter anderen mit der Diakonie Katastrophenhilfe und der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine.
OKI: Oft heißt es, Menschen, die aus der Ukraine flüchten wollen, aber anderer Nationalität sind, werden an der Grenze abgewiesen. Haben Kirche und Diakonie in Polen Möglichkeiten, etwas für diese Menschen zu tun?
WF: Die Diakonie Polen achtet nicht auf die Nationalität der Flüchtlinge. Sie hilft jedem, der Unterstützung braucht. Aber es trifft zu, dass zu Beginn der Flüchtlingskrise im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine (Februar-März 2022) es Berichte über Diskriminierungen an der polnisch-ukrainischen Grenze gegenüber Nicht- Staatsangehörigen der Ukraine oder Polens gegeben hat. Derzeit liegen solche Informationen nicht mehr vor.
OKI: Wir glauben, dass Ihr Einsatz für die Menschen in und aus der Ukraine dem Frieden in Europa dient. Sehen Sie das auch so? Und wenn ja, was gibt Ihnen in dieser Situation Hoffnung?
WF: Die Ukraine ist in unserer direkten Nachbarschaft und es gibt viele Verbindungen zwischen Bürgern Polens und der Ukraine. Diese Verbindungen sind schon viel älter als der Krieg in der Ukraine. Wir spüren förmlich das Leid der durch den Krieg tief verletzten Menschen.
Freilich haben wir über die Grenze zu Masuren auch Kontakte zu Gemeinden in dem russischen Oblast (Gebiet) Kaliningrad aufgebaut. Auch da ist das Verständnis füreinander gewachsen. Umso schmerzhafter ist es, dass durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die damit einhergehende Zensur das begonnene Vertrauensverhältnis massiv gestört wurde und wir weit zurückgeworfen wurden. Wir hoffen, dass wir uns als evangelische Christen wieder näherkommen werden. Bis die politischen Zustände dies zulassen, sind wir verbunden im Gebet.
In dieser Situation kann man große Hoffnung aus der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen schöpfen. Nach dem schrecklichen Krieg gab es großen Hass und Misstrauen zwischen Polen und Deutschen. Aber wir konnten neue Beziehungen aufbauen und uns versöhnen. Nach dieser Erfahrung leben Deutsche und Polen in Frieden und arbeiten zusammen. Das zeigt, dass man eine Lösung sogar in den schrecklisten Konflikten finden kann.
OKI: Welche Botschaft haben Sie an die Regierenden in Europa?
WF: Als Christinnen und Christen stehen wir ein für Versöhnung unter den Menschen. Daher wirken wir auf menschliche Verbindungen hin. Wir kennen uns. Daher wissen wir auch, wie nahe wir uns als Polinnen und Ukrainerinnen in unserem Denken, Hoffen, Wünschen sind. Wir gehören zusammen und erwarten daher, dass die europäischen Regierungen ihre Anstrengungen intensiver werden lassen, die politische Gemeinschaft zu stärken. Die russische Regierung fordern wir auf, diese gemeinschaftliche Verbundenheit anzuerkennen und sie nicht als Bedrohung, sondern als Chance, weitere Verbindungen zu gestalten, anzuerkennen. Rückwärtsgewandtes Hegemonialstreben ist immer zerstörerisch. Verbindungen schaffen hingegen ist umfassend förderlich für den Frieden.
OKI: Welche Botschaft haben Sie an die Christen und Kirchen in Europa?
WF: Christen dürfen niemals nationalen Egoismus anwenden. Gott liebt alle Menschen aus allen Nationen. Seine Liebe ist grenzenlos. Daher ist es unser christlicher Auftrag, für Verbindungen unter den Menschen zu sorgen und menschengemachte Grenzen zu überwinden. Wir tun dies im Gebet. Und wir tun dies mit Hilfsangeboten und schließlich durch Kontakte. Diese Vision eines in Frieden lebenden Gottesreiches lassen wir nie aus dem Sinn. Unser Engagement ist es, im Vertrauen auf Gottes Hilfe an diesem Gottesreich zu bauen.
Das Christentum ist meines Erachtens nur dann glaubwürdig, wenn diejenigen, die sich zu ihm bekennen, die Nächstenliebe in den Mittelpunkt stellen. Wenn wir das Böse mit dem Guten überwinden und uns dieser Herausforderung gemeinsam stellen, werden wir die Welt zum Besseren verändern.
(Wanda Falk antwortete auf die Fragen von Martin Herche am 6. März 2023)